Verlassen sind wir, doch bleibend bereichert

Eva Reichel, Wien 

 

Ein Nachruf für Dr. Wolfgang Wolfring 

Nichts könnte besser das Empfinden aller jener Menschen beschreiben, die das Glück hatten, zu Weggefährten, Freunden und Schülern von Dr. Wolfgang Wolfring zu zählen, als diese Zeilen aus seiner Todesanzeige: Mit ihm starb am 21. August 2001 nach jahrelang mit großer Kraft und Disziplin im Geiste stoischer Philosophie geführtem Kampf gegen eine bösartige Krankheit ein Mann, der wie kaum ein anderer Theorie und Praxis des klassischsprachlichen Unterrichtes an den österreichischen Gymnasien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitgeprägt hat. 

  

1925 in Wien – in schweren Zeiten – geboren, besuchte er Schottengymnasium und Akademisches Gymnasium, wo er die entscheidenden Impulse für seine lebenslange leidenschaftliche Liebe zur Klassik empfing. „Zu den Erinnerungen, die der junge Wolfgang mitnahm, gehört die an eine Lateinstunde, in der der Professor über das Prädikatsnomen philosophierte“, schrieb die unvergessene Pia Maria Plechl in einer großen Würdigung seiner Persönlichkeit. 1943 als Achtzehnjähriger zum Militärdienst eingezogen, erlitt er im Jänner 1945 beim Versuch, anderen zu Hilfe zu kommen, eine entsetzliche Kriegsverletzung, wobei er beide Füße und ein Bein teilweise verlor. Wie er mit dieser lebenslangen Behinderung umging, daß er trotz aller Einschränkungen nie Humor und Selbstironie verlor, war für alle bewunderungswürdig und beispielhaft; ließ er sich doch nicht einmal dadurch davon abhalten, Bildungsreisen für Schüler und Freunde über viele Jahre hinweg zu einem Schwerpunkt in der Hinführung zu Verständnis für die Geisteswelt der Antike zu machen, unvergeßlich für alle, die je daran teilnahmen. Noch im März dieses Jahres erhielt ich – durchaus schon altgedient und sogenannt „erfahren“ als Lehrer der klassischen Sprachen – ganz wesentliche Anregungen von ihm bei der Vorbereitung einer Projektwoche, Anregungen, die dann in Griechenland für Schüler und Lehrer wunderbare Früchte trugen. Nach einem breitgefächerten Studium an der Universität Wien – Klassische Philologie, Alte Geschichte, Archäologie – unterrichtete er mehrere Jahre an verschiedenen Wiener Schulen, bis er schließlich mit dem Schuljahr 1954/55 menschliche Hei-mat und geistigen Mittelpunkt seiner Tätigkeit am Akademischen Gymnasium fand. Schönes und Unkonventionelles zei-gen Eindrücke seiner Schüler aus jener Zeit: „Er war streng, als er zu uns kam, später gab sich das. Einem Mitschüler, der bei ihm einen Fünfer bekam, schenkte er am darauffolgenden Wandertag einen Spielzeugflieger zum Trost. ... Sein Verhältnis zur Materie war getrübt, was die Schlacht von Salamis beweist. Diese fand auf der Alten Donau statt. Wolfgang führte uns zu Schlacht und Sieg, zur Freude sämtlicher Mitschüler und zum Leide der Bootsverleiher. Alles, was aufzutreiben war, Paddelboote, Segelboote, Ruderboote, wurde ausgeborgt, die Boote rammten einander, wir fielen ins Wasser und gaben die ramponierten Boote zurück. Für jede neue Schlacht mußte der Bootsverleiher gewechselt werden – ein zweites Mal hätte uns keiner die Boote geborgt. Schließlich gab es keinen Verleiher mehr, der uns nicht kannte – uns und unseren Wolfgang. Die letzte Schlacht von Salamis mußte abgesagt werden, und es fand ein friedliches Wettsegeln statt.“ Was für ein wunderbarer, von keinerlei bürokratischem Denken getrübter spontaner und sinnlicher Zugang zu erlebnishaftem Unterricht! Welch großes Glück für mich als junge Lehrerin war es, von ihm als „Schülerin“ angenommen zu werden! Bis heute beflügelt es mein Unterrichten, daß ich durch und mit ihm erlebt habe, was ein klassisches Symposion wahrhaftig sein kann – im Geiste Apolls und des Dionysos. Wie denn überhaupt die Vorstellung vom „pädagogischen Eros“ wenn je, dann in seiner Person sich realisiert hat; dies bewies auch der Zustrom junger Leute zu ihm in der Schule wie im privaten Bereich. Seine Wohnung war ein „meetingpoint“ für alle; oft wurden bis spät in die Nacht bei Kerzenlicht Parties gefeiert. Anderen Lehrern wurde dies unheimlich, sie starteten eine Unterschriftenaktion gegen ihn. Doch gerade am Hö-hepunkt der Intrigen kam plötzlich eine Ehrung von oben, das Verdienstkreuz der Republik Österreich. Die Unterschriftenaktion wurde abgesagt, Wolfgang war rehabilitiert. Der Grund? Das griechische Theater natürlich, jene Institution, die für immer mit seinem Namen verbunden bleibt. Über dreißig Jahre, von 1960 an bis 1996, war Name und Ruf des Akademischen Gymnasiums in Wien verbunden mit der Geschichte des „Griechischen Theaters“ unter Wolfgang Wolfring. Die eindrucksvolle Liste der Aufführungen beweist eine schier unglaubliche Schaffenskraft und Fähigkeit, Menschen für ein so anspruchsvolles Gemeinschaftsunter-nehmen zu begeistern; die dauerhafte Mo-tivation erwuchs den Teilnehmern gleichermaßen aus der Bedeutung seiner Persönlichkeit wie aus der Sache. Lange vor der Hochkonjunktur von Teamarbeit, Coaching oder Kommunikationsstrategie vermochte die pädagogische Kraft eines begnadeten Lehrers all dies zu einem Gemeinschaftsunternehmen der ganzen Schule zu bündeln, das in Tiefe und Nachhaltigkeit seinesgleichen in der jüngeren österreichischen Schulgeschichte nicht hat. Es ging Wolfring vor allem darum einsichtig zu machen, daß die klassischen Tragiker ihre Stücke für das Publikum geschrieben haben, nicht als bloße Lektüre; zu zeigen, daß die griechische Tragödie eine Angelegenheit des ganzen Volkes war, ein Zeichen echter Demokratie; war doch das Theater ein Fest für alle; „auch die Armen, Menschen, die nicht lesen, aber hören und verstehen konnten, haben eine ganze Trilogie und zusätzlich ein Satyrspiel miterlebt“, so Wolfring in einem Interview. In Zeiten aufkommenden sogenannten Regietheaters wollte er auch verdeutlichen, „daß der Dichter immer noch um vieles größer ist als jeder Regisseur“. Tatsächlich wirkte er aber nicht nur als Regisseur, sondern auch als Dramaturg, Übersetzer und Bearbeiter von Übersetzungen. Werktreue und Sprachgerechtigkeit waren ihm hierbei besondere Anliegen – alles unter dem Horizont der Kapazität von Schülern und Publikum. Die Sogwirkung der Theaterarbeit erfaßte auch Schülerinnen und Schüler, die nicht Griechisch lernten. Ihnen las Wolfgang die Texte vor, dazu Wort für Wort die Übersetzung, damit ihnen die Verbindung von Klang und Bedeutung in Fleisch und Blut übergehen konnte. Dankbar erlebte er auch in den meisten Fällen die Unterstützung durch „seine“ Schule bei Proben (die immerhin schon im Jänner für die Herbstaufführungen begannen), Aufführungen und Gastspielreisen. Mag auch manchmal der eine oder andere Kollege das Theater als Ablenkung vom eigentlichen Schulzweck gesehen haben, so hat die Zeit doch alle belehrt: nichts blieb einem Schüler mehr im Gedächtnis als die Mitwirkung bei einer solchen Veranstaltung; nichts war für die Klassen- und Schulgemeinschaft bindender als diese gemeinsamen Erfahrungen. Was kann ein Lehrer mehr tun für sein Fach, als es zur Wirklichkeit zu machen? In diesem Sinn wurde die klassische Antike und das, worauf es den Griechen ankam, zum Leben erweckt: das Gute als Selbstzweck, das Scheitern des Menschen als Vollendung seiner Persönlichkeit. Dies erfahren und erlebt zu haben verdanken Schüler und Kollegen ihrem großen, unermüdlichen Lehrmeister Wolfgang Wolfring. Manch einer seiner Schüler wurde später zu einem Freund; seine Freunde waren es, die ihm auch in schwierigen und schweren Situationen dankbar zur Seite standen bis zuletzt. 

  

Vertieft und erweitert wurden Neugier und Liebe zu antikem Lebensgefühl und Gedankengut weiters durch die vielen Lesungen unter seiner Regie. Auch hiervon legt der Überblick eindrucksvoll Zeugnis ab. Stets einem inhaltlichen Motto verpflichtet, erfaßten diese Abende einen noch breiteren Interessentenkreis und trugen wesentlich dazu bei, das Publikum zu einer fast verschworenen Gemeinschaft zu machen und in immer neue geistige Abenteuer zu führen. Wir attraktiv diese Angebote waren, zeigt sich auch in den zahlreichen Schulfunksendungen, die Wolfring für den ORF über griechische Philosophie, Dichtung und Ge-schichte gestaltet hat sowie über das Weiterleben griechischer Dramen auf der modernen Bühne. 

  

Neben all dieser pädagogischen Höchstleistungen stand Wolfring auch dem Unterrichtsministerium als Mitarbeiter zur Verfügung, nämlich als Mitglied der Projektgruppe für die Neugestaltung der Lehrpläne für Latein und Griechisch. Auch hier erwies er sich als bedeutender Mentor dieses Gremiums, wobei er stets die schulpraktische Realität im Auge be-hielt und die Akzeptanz von Reformvorschlägen daran maß, was Schüler brauchen, was ihnen gut tut, ohne jedoch die zentralen geistigen Werte seiner Fächer irgendwelchen Simplifizierungen preiszugeben. Auch in der Lehreraus- und Fortbildung war er ebenso unermüdlich tätig wie als Lehrbeauftragter am Institut für Klassische Philologie der Universität Wien. Daß angesichts einer derart überwältigenden Lebensleistung öffentliche Ehrungen nicht ausblieben, ist nur allzu selbstverständlich (wenn er auch nicht al-le angetragenen sichtbaren Auszeichnungen anzunehmen bereit war): natürlich alle Formen von Dank und Anerkennung seitens des Stadtschulrates für Wien, das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, das Goldene sowie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse. 

  

Die wunderbare und so seltene Verbindung des Apollinischen mit dem Dionysischen, von Geistigkeit und Lebensfreude, die in seiner Person erlebbar wurde, werden wir nicht vergessen. Ich schließe mit einem Satz aus einer Gedenkveranstaltung für Wolfgang Wolfring: 

  

Wir verneigen uns tief vor einem Freund, der weiter mitten unter uns ist. 

  

Die wichtigsten Stationen der Geschichte des Griechischen Theaters unter Prof. Wolfring am Akademischen Gymnasium 

1960

Euripides: ALKESTIS 

1960

Menander: DYSKOLOS (Öst. Erstaufführung) 

1962

Sophokles: PHILOKTET 

1963

Euripides:TROERINNEN 

1965

Aischylos: ORESTIE 

1966

Eiripides: HIPPOLYTOS 

1967

Aischylos: PROMETHEUS (auch in Graz) 

1968

Sophokles:ÖDIPUS 

1971

Euripides: BACCHANTINNEN 

1973

Sophokles: ELEKTRA 

1975

Aristophanes: DIE FRÖSCHE (Innsbruck, Frankfurt, Bozen) 

1977

Aristophanes: DIE VÖGEL 

1980

Sophokles: ANTIGONE (Innsbruck, Meran) 

1982

Euripides: ALKESTIS (Mattersburg, Klagenfurt, Bozen) 

1985

Sophokles: KÖNIG ÖDIPUS und ÖDIPUS AUF KOLONOS (WU Wien, Innsbruck, Meran, Bruneck, Klagenfurt) 

1988

Plautus: AMPHITRYON (Innsbruck, Meran, Zürich) 

1990

Sophokles: PHILOKTET (Gegenüberstellung mit dem „Philoktet“ von H. Müller; Gastspiel in Bozen) 

1991

Sophokles: DIE SPÜRHUNDE (Gastspiel Hellbrunn), Euripides: MEDEA; Anouilh: Medea (Innsbruck, Meran, Zürich) 

1992

Aischylos: ORESTIE 

1994

W. Hildesheimer: DAS OPFER HELENA; am selben Abend Euripides: IPHIGENIE IN AULIS (Regie: D. Tot) 

1995

Euripides: IPHIGENIE BEI DEN TAURERN 

1996

Euripides: ALKESTIS (Gastspiele in Bozen, Linz) 

  

Ein Überblick über die Lesungen unter der Regie von Prof. Wolfring 

1965

Hellenische Gottsuche 

1966

Medea bei Euripides und Anouilh 

1967

Die Iden des März (Th. Wilder) 

1969

Der Mensch in der Welt der homerischen Götter 

1971

Das Opfer Helena (Hildesheimer) 

1972

Mensch und Gottheit bei den griechischen Tragikern 

1975

Menschliche Vereinsamung und Größe bei Sophokles 

1976

Hektor und Achilleus in der homerischen Dichtung 

1978

Staat und Demokratie im Spiegel der griech. Literatur 

1979

Odysseus bei den Phäaken; Helena einst und jetzt 

1981

Die Heimkehr des Odysseus 

1982

Äneas und Dido 

1983

Ovid, Dichter der Verwandlung (Metamorphosen) 

1984

Eros und Aphrodite 

1986

Die Iden des März (Th. Wilder) 

1989

Die Heimkehr des Odysseus 

1990

Die Abenteuer des Odysseus 

1992

Der antike Mensch in Mythos, Geschichte und Dichtung 

1993

Ein bunter Bilderbogen durch die Antike; 2000 Jahre Horaz 

1994

Griechische und römische Lyrik 

1995

Liebe und Freundschaft in antiker Philosophie und Dichtung; Göttliches und allzu Menschliches bei Homer 

1996

Homer von der heiteren Seite 

Antike Lyrik, ernst und heiter 

1998

Apoll sprang ans Licht; Ein bunter Bilderbogen durch die phantastische Welt des Dichters Ovid 

2000

Nichts bleibt, doch alles ist von Dauer (Metamorphosen) 

Wie die Menschen sind und wie sie sein sollten (Seneca) 

2001

Socrates, sein Prozess und sein Tod; Wie sie lebten, wie sie liebten (griech. – röm. Lyrik) 

Wie die Menschen sind und wie sie sein sollten (Seneca, Krems): Letzte Inszenierung von Prof. Wolfring